Werde ich wie meine Eltern?

Warum entdecke ich gerade in späteren Lebensjahren Charaktermerkmale an mir selbst, die typisch für meinen Vater oder meine Mutter sind? Warum werde ich teilweise wie meine Eltern, obwohl ich gerade diese Eigenschaften vielleicht gar nicht mag? Waren unsere Eltern rückblickend zu jähzornig, empathielos, kaltherzig, oder zu weich, naiv und leichtgläubig… oder hatten andere negative Verhaltensweisen? Und warum entdecken wir gerade diese Eigenschaften in uns selbst im Umgang mit unseren eigenen Kindern oder unserem Partner?

Interessanterweise entdecken auch Kinder, die adoptiert worden sind (auch ohne soziale Prägung der Eltern), einige Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften ihrer biologischen Eltern in sich selbst wieder.

„Ich will um jeden Preis niemals so werden wie meine Eltern… und stelle plötzlich fest, dass ich ihr perfektes Spiegelbild geworden bin“

Gerade für Menschen mit Interesse an Spiritualität und Esoterik mag das ein Widerspruch sein. Viele spirituelle Weltmodelle gehen von dem Konzept der Reinkarnation und Wiedergeburt aus. Der Mensch ist teilweise eine biologische Hülle für ein (vergessliches) Geistwesen, einer Seele, die in einem früheren Leben ein ganz anderes soziales Umfeld erlebt und gelebt hat. Trotzdem scheinen wir manchmal eher einer Reinkarnation unserer Eltern zu gleichen. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen und erklären?

Ein schönes Beispiel für Pädagogik, die das Konzept der Reinkarnation teilweise integriert, ist die Waldorf-Pädagogik auf Basis der Lehre von Rudolf Steiner. „Nachahmend lebt sich das Kind in die Welt ein“. Waldorf-Lehrer betrachten das Kind nicht nur als heranwachsenden kleinen Menschen sondern als eine mögliche Inkarnation einer bereits existierenden Persönlichkeit, die vielleicht selbst einmal Lehrer, Wissenschaftler, Soldat, Vater und Mutter oder ein hoher Beamter gewesen ist. Dies hat den positiven Effekt, dass dem Kind etwas mehr Respekt und Eigenverantwortung zugesprochen wird. Darüberhinaus kennt sie einen sieben-Jahres Rhythmus, in dem die Persönlichkeit einen Reifeprozess durchlebt.

In der Walldorf-Pädagogik geht man davon aus, dass sich ein Kind sensorisch und durch Nachahmung in seine Umgebung einlebt. Das Vorbild der Eltern und Erzieher und natürlich das ganze Spektrum an Reizen wie Gerüche, Klänge, die natürliche Umgebung der Natur und die Interaktion mit dieser spielt eine wesentliche Rolle in der emotionalen und kognitiven Entwicklung des Kindes. Sieht ein Kind ältere Kinder beim Tanzen wird es automatisch anfangen mitzutanzen.

Selbst wenn der Wesenskern eines Kindes in einem früheren Leben geprägt worden ist, übernimmt es neue Verhaltensweisen und Wesenszüge, die es aus von seinem unmittelbaren sozialen Umfeld vorgelebt bekommt. Dazu gehören auch Marotten, negative Charakterzüge und Äußerungen der Eltern, Erzieher und Geschwister.

Der Einfluss der Eltern als Vorbild ist größer als der Stempel, den die Eltern ihren Kindern ganz bewusst in der Erziehung aufdrücken wollen. Geht ein Erwachsener bei Rot über die Strasse, verbietet das aber dem Kind, so wird das Kind automatisch dem Beispiel der Eltern folgen und ebenfalls bei Rot über die Strasse gehen. Diesen Prozess nennt man auch Familiäre Sozialisation. Auch neue Fähigkeiten können durch Nachahmung gelernt werden, ein Vorgang, den man auch bei Tieren wie z.B. Primaten, Vögeln und anderen Säugetieren beobachtet (Imitationslernen).

Folgende Punkte spielen bei der Erklärung des Phänomens eine Rolle:

  • Modellernen: Das Kind lernt durch Beobachtung und Nachahmung. Verhaltensweisen, Sprache und soziale Interaktion der Eltern werden beobachtet und nachgeahmt.
  • Identifikation: Die Eltern dienen als Vorbilder mit denen sich die Kinder identifizieren. Positive Eigenschaften wie Klugheit, Stärke oder Freundlichkeit werden übernommen und in das eigene Persönlichkeitsmuster aufgenommen.
  • Werte und Normen: Kinder übernehmen familiäre Prägungen, moralische und ethische Überzeugungen.
  • Genetik: Bestimmte genetische Faktoren begünstigen die Ausprägung bestimmter Wesensmerkmale, z.B. depressive Merkmale bei einem Mangel oder Überschuss bestimmter Neurotransmitter.

Diese und andere Faktoren wirken sehr unbewusst auf den jungen Erwachsenen und üben oft eine viel stärkere Prägung aus, als diese bewusst wahrgenommen wird. Dies kann sogar so weit gehen, dass das Kind später als Erwachsener die selben Redewendungen, Bewegungen oder zum Verwechseln ähnliche Geräusche ausdrückt, wie eines der Elternteile. Diese Prägung ist unabhängig vom Geschlecht, so dass sowohl Mädchen Verhaltensweisen und Merkmale ihres Vaters und Söhne die ihrer Mütter übernehmen können. Diese Muster sind oft auf einer tiefen und emotionalen Ebene verwurzelt und dem Kind zunächst völlig unbewusst.

Der Psychoanalytiker Erik Erikson hat ein Stufenmodell der Entwicklungsphasen eines Kindes aufgestellt. Dabei geht es um Verletzlichkeit, die eigene Rollenfunktion, die Kontrollfunktion (eigene Grenzen und Einfluss), Intimität und Solidarität (oder Isolation) und später die Selbstabsorption und Kreativfunktionen im Erwachsenenalter. Auch bei ihm spielt die Vorbildfunktion der Eltern und des sozialen Umfeldes eine zentrale Rolle.

Der Biologe Jean Piaget führt die Entwicklung der Persönlichkeit und die Intelligenz auch als Ergebnis biologischer Funktionen wie Konditionierung und Habituation (Gewöhnung) zurück.

Albert Bandura sprach erstmals von Selbstwirksamkeitserwartung. Er spricht von sozialem Lernen als Lernen durch Beobachtung. Eine interessante Nebenthese von ihm ist dabei, dass eine junge Persönlichkeit, die an die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten glaubt und von sich selbst überzeugt ist auch insgesamt erfolgreicher und einfacher durch das Leben geht.

Fazit

Unsere Entwicklung ist einzigartig und wir sind kein Spiegel unserer Eltern. Da wir aber sowohl genetisch als auch sozial von ihnen geprägt wurden, insbesondere durch ihr Vorbild und ihre Verhaltensweisen, färben manche ihrer Aspekte auf uns ab und kleben teilweise an unserer Persönlichkeit. Wenn wir einige bestimmte dieser Wesenszüge nicht als Teil unserer eigenen Persönlichkeit akzeptieren, bleibt uns entweder der Versuch, diese bestmöglich zu unterdrücken oder einfach zu akzeptieren. Vielleicht verleihen uns gerade diese Eigenschaften auch eine gewisse Form von Stärke, selbst wenn wir die Wirkung auf unser soziales Umfeld als unangenehm empfinden.

Möglicherweise sollten wir mit einigen dieser Eigenschaften unseren Frieden machen und überlegen, ob wir sie nicht bewusst als Teil unserer Persönlichkeit beibehalten wollen. Wir können auch versuchen in einer Art „Aufstellung“ mit diesen Eigenschaften ein inneres Gespräch mit den Merkmalen zu führen. Wir können z.B. eine ungewollte „Aggression“ in uns, die wir in unserem Vater erkannt haben, direkt fragen, warum sie da ist und welche Probleme sie uns bereitet. Unser Unterbewusstsein wird uns dann vielleicht eine erstaunliche Antwort geben.

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wir dürfen selber entscheiden, was wir an unserer Persönlichkeit mögen und was eben nicht. Die Persönlichkeit wird zwar von unseren Eltern teilweise beeinflusst, weiterentwickeln und programmieren müssen wir unser Wesen uns jedoch selbst – bis zum Ende unseres Lebens.