Verlassen der Matrix

Kurz vor der Jahrtausendwende erschien ein bahnbrechender Hollywood-Film: Die Matrix von den Wachowski-Geschwistern. Falls du die Handlung noch nicht kennst, es geht darum, dass die Menschheit in einer virtuellen Realität gefangen ist, während die Körper in Wirklichkeit in technologischen Tanks liegen und sämtliche sensorischen Reize von einem Computer generiert werden. Für den darin gefangenen Menschen ist diese virtuelle Realität die einzige Wirklichkeit, die er kennt und die er für echt hält.

Diese überraschende Geschichte besitzt Parallelen zu Platons Höhlengleichnis, aber auch zur Dystopie der Handlung im Roman 1984. Die Wirklichkeit, also unser Weltbild, das uns mit aller Macht in den Kopf gepflanzt wird, ist nicht die echte Wirklichkeit. Wenn wir die künstliche Realität annehmen, kann man uns falsche Motivationen, Hoffnungen und Wünsche vorgaukeln und somit für fremde Zwecke ausnutzen.

Das Erschreckende an dem Film ist, dass dem Zuschauer tatsächlich kurz bewusst wird, dass er eigentlich keine Möglichkeit hat, für sich zu beweisen, dass er nicht selbst Opfer einer solchen falschen Realität, genannt Matrix, ist. Selbst wenn wir uns erlauben vorauszusetzen, dass wir nicht in einem Glaszylinder mit Computerverkabelung liegen, um z.B. unsere Körperwärme zur Energiegewinnung zu benutzen, kann diese Idee erschreckend sein.

Kaum ein Mensch kann leugnen, dass er irgendwo in seinem Leben in einer Art Micro-Matrix lebt, einer Lüge, um ihn für fremde Zwecke einzuspannen. In einer fairen Gesellschaft arbeiten wir entsprechend unseren Talenten und Fähigkeiten, um z.B. Geld als Gegenleistung zu verdienen, das hier wiederum mit anderen Menschen gegen Waren und Dienstleistungen austauschen. Was aber, wenn man uns z.B. eine Geschichte von einem kommenden Weltuntergang erzählt und wir unsere gesamte Lebensenergie für einen Guru, Meister oder eine Gemeinschaft verschwenden? Was, wenn in uns eine so starke Wunschvorstellung geweckt wird, dass wir sämtliche Fakten ignorieren, um voll und ganz in einer Illusion zu leben, die uns nur falsche Hoffnungen macht?

Bei derartigen Micro-Matrizen kann es sich auch um weniger schicksalhafte Aspekte handeln, die aber trotzdem unser Leben in wichtigen Punkten in eine falsche Richtung lenken. Was, wenn wir einen toxischen Partner haben, der uns ewige Treue vorgaukelt und in Wirklichkeit eine heimliche Affäre lebt? Was, wenn uns unser Vorgesetzter auf der Arbeit falsche Hoffnung für eine Beförderung macht, die er aber niemals wirklich realisieren wird? Vielleicht spenden wir seit Jahren für eine angebliche Hilfsorganisation, die die Geldmittel nicht den Bedürftigen, sondern nur für ihren eigenen Luxus verschwenden. Die Liste derartiger auftretender Micro-Matrizen lässt sich endlos fortsetzen.

Einige Menschen gehen rücksichtslos vor und nutzen ihre Mitmenschen schamlos aus. Am Ende des Tages ist jeder Mensch irgendwann erwachsen und kann sich selbst ein Urteil darüber bilden, ob er nur einer Illusion erliegt oder lieber eine – wenn auch unangenehme – Wahrheit akzeptiert. Am Ende darf sich jeder Mensch frei und eigenverantwortlich dafür entscheiden, einer vermeintlichen Illusion anzuhängen, weil es aus seiner Sicht die beste Entscheidung für ihn ist. Das darf er selbst entscheiden, denn nur er selbst trägt die meisten Konsequenzen seiner Entscheidung.

Die wichtigste Frage ist: bin ich bereit eine mögliche Matrix zu verlassen und hänge ich noch zu sehr an meiner gewohnten Illusion? Der Aufwachprozess kann unangenehm sein, uns aus der Komfortzone bringen, aber am Ende Freiheit schenken und langfristig eine weitaus bessere Lebensqualität. Wählst du die rote Pille oder die blaue Pille, bei der alles so bleibt, wie es ist?