Muss ich verzeihen?
Bewusstes Verzeihen ist heilsam für Körper, Geist und Seele. Es verbindet und leichter mit anderen Menschen, stärkt Freundschaften und fördert nebenbei ungemein das innere Wohlbefinden.
Der Autor dieses Artikels sieht sich selbst eher als nachtragend. Er hat einen gewissen inneren Stolz und reagiert auf Fehler Anderer schnell mit Ablehnung. Dieses Verhalten ist absolut menschlich. Trotzdem weiss er, dass die Weigerung und mangelnde Bereitschaft, anderen Menschen ihre kleinen Fehler zu verzeihen, schnell negativ auf ihn selbst zurückfällt. Negative Gefühle, Wut und Groll erzeugen Stress und belasten die Seele. Ihm ist bewusst, würde er seinen Bekannten, Freunden und Verwandten auch ernstere Vertrauensbrüche nicht irgendwann auch einmal verzeihen können, würde er schnell völlig alleine dastehen, ohne irgendwelche Freunde und Partnerschaften. Meinungen, Persönlichkeiten und Charaktere sind sehr verschieden, insbesondere starke, extravagante und kreative Menschen.
Verzeihen und Vergebung in der Religion und Spiritualität
Das Thema Verzeihen ist in den meisten spirituellen und religiösen Glaubenssystemen tief verankert. Im christlichen Vaterunser heisst es: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Matthäus 6:12). Im Islam ist Vergebung eine Pflicht, so wird Allah auch als al-Ghaffar „der Vergebende“ bezeichnet. Das Judentum feiert den Versöhnungstag (Jom Kippur), bei dem man Gott um Vergebung für die Sünden der Menschen bittet. Natürlich wird man auch daran erinnert, sich gegenseitig Verfehlungen zu vergeben.
Im Hinduismus ist Vergebung wichtig für ein gutes Karma und wird als spirituelle Stärke gesehen. Auch im Buddhismus spielt Vergebung und Verzeihen eine wichtige Rolle beim Loslassen und Befreiung von Leid, es ist ein Ausdruck von Mitgefühl und Weisheit.
Eine besondere Rolle in der Spiritualität spielt dabei oft auch die Selbstvergebung. Während Religionen gerne ein Gefühl von Schuld beim Einzelnen fördern und unterstützen, möchten freiere spirituelle Systeme die Selbstvergebung und Selbstliebe fördern. Frei nach dem Motto: wenn wir uns selbst nicht vergeben können, dann sind wir auch nicht in der Lage, anderen Menschen ihre Fehler zu verzeihen.
Unterschied zwischen Vergebung und Verzeihen
Beim Verzeihen liegt der Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen und es geht oft um einzelne und kleinere Verfehlungen. Man entscheidet sich einen konkreten Konflikt oder Spannung zu beenden. Meistens verzeiht man eher unbedeutende Fehler und will einfach deswegen nicht übertrieben nachtragend sein.
Bei der Vergebung geht es um tiefere und langfristigere Spannungen. Hier geht es darum, das Verhältnis zu einer Person langfristig zu Heilen. Bei der Vergebung geht es um einen bewussteren inneren Prozess, der oft viel mehr Überwindung abverlangt.
Muss ich IMMER verzeihen?
Letztlich muss jeder für sich entscheiden, wo seine persönliche Schmerzgrenze für Vergebung und Verzeihung ist. Jede zwischenmenschliche Beziehung ist anders. Wenn jemand ein falsches Verhalten ohne Reue und aus tiefer Böswilligkeit heraus an den Tag gelegt hat, ist ein Verzeihen vielleicht keine gute Idee, weil derjenige auch Anderen gegenüber mit seinen Übergriffen weitermachen wird. Handelt es sich aber um einen Fehler, der zutiefst bedauert und bereut wird, im Zusammenhang mit einer aufrichtigen Entschuldigung und der Bitte um Vergebung, kann der Benachteiligte durchaus über ein Verzeihen nachdenken. Die Entscheidung muss er aber ganz allein für sich treffen. Die Kunst beim Verzeihen besteht gerade darin, für sich festzustellen, ob die Grenze eines gewöhnlichen Fehlverhaltens oder einer böswilligen Handlung bereits überschritten worden ist oder eben nicht.
Manchmal wird ein Verzeihen auch ganz bewusst verweigert, um ein ganz anderes Ziel zu erreichen. Wenn sich Männer oder Frauen entliebt haben, suchen sie oft nach Vorwürfen und Fehlern beim Partner, um eine Beendigung der Beziehung zu rechtfertigen („Ich kann dir nicht mehr vertrauen!“). Ein Verzeihen ist gar nicht erwünscht oder möglich, weil man einen Vorwand braucht, um den (ungeliebten) Partner schnell loszuwerden, ohne selbst moralisch schlecht dazustehen (obwohl man vielleicht selbst den Partner betrogen hat). Nicht-verzeihen-wollen kann somit auch schnell missbraucht werden.
Gerade in Geschäftsbeziehungen kommt es schnell vor, dass man sich hintergangen und übervorteilt fühlt, insbesondere wenn es um Geld geht. Ist der Vertrauensbruch so gross, dass man einfach nicht mehr die Sicherheit hat, dass einem sein Geschäftspartner nicht nochmal hintergehen wird, ist eine Zusammenarbeit vermutlich keine gute Idee und man geht besser getrennte Wege. Dafür macht man klare schriftliche Verträge in Zeiten, wo die Zusammenarbeit noch gut funktioniert. Vielleicht besteht eine Möglichkeit, die Freundschaft weiterzuführen, aber leider stimmt häufig das Stichwort: Bei Geld hört die Freundschaft auf!.
Wer aber auch bei Kleinigkeiten schnell nachtragend, beleidigt und verletzt ist, der hat schnell keine Freunde mehr. Jeder Mensch macht Fehler, sowohl absichtlich als auch unabsichtlich. Wir alle haben erlebt, wir wir anderen gegenüber vielleicht selbst nicht immer ganz fair waren.
Verzeihen bei Untreue
Hier muss man wirklich abwägen und jeden einzelnen Fall getrennt betrachten. Ein einmaliger Seitensprung (z.B. bei einer Weihnachtsfeier) ist eine völlig andere Situation als eine jahrelang geheimgehaltene Affäre. Ob du deinem Partner einen Seitensprung verzeihen möchtest, oder diesen Vertrauensbruch auf keinen Fall tolerieren kannst, liegt ganz alleine bei dir. Es gibt viele Paare, bei denen einer oder beide Partner einen Ausrutscher erlebt haben, und die trotzdem wieder glücklich zueinander gefunden haben. Kommt es aber zu bewussten und wiederholten Handlung in dieser Richtung, darf man sich schon fragen, ob die Beziehung noch auf einem stabilen Fundament aus Vertrauen und gegenseitigem Respekt aufgebaut ist.
Vorteile des Verzeihens
Wenn jemand aber gut ist, im Verzeihen, dann führt das zu mehr Selbstliebe, Dankbarkeit und Vertrauen. Verzeihen fördert Empathie und lenkt den Fokus von Verletzung und Konflikt hin zu Lösungen und Wachstum.
Verzeihen reduziert negative Emotionen und steigert positive Gefühle. Es stärkt unsere Bindungen und erlaubt die Wiederherstellung verletzter Beziehungen. Hast du häufig Ärger und Meinungsverschiedenheiten mit Anderen? Vielleicht liegt es dran, dass du nicht gerne verzeihen kannst. Fasse diese Möglichkeit einmal ins Auge. Wenn sich alle Menschen um dich herum schnell von dir abwenden, vielleicht liegt bei dir selbst etwas vor, was du korrigieren solltest. Vielleicht liegt der Fehler dann eben nicht so oft bei den Anderen.
Dieser Artikel soll dich nicht ermutigen, dein Verhalten zu ändern. Er soll dir eine neue Perspektive zeigen und über das Thema Verzeihen und Vergebung neue Sichtweisen aufzeigen. Wer schnell verzeiht, ist häufig glücklicher, weniger emotional belastet und irgendwie spiegeln andere das Verhalten dann auch wieder, indem sie auch uns schneller verzeihen.
Vielleicht ist bewusstes Verzeihen ein wichtigeres Thema für dich, das dir bislang bewusst war. Vielleicht ist es Schlüssel für dich, der dir viel Ballast und unnötige Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen abnimmt.