Die geheime astrale Bibliothek
Kiran hat schon lange keinen luziden Traum mehr erlebt. Zu sehr haben ihn seine alltäglichen Aufgaben im Büro aus seiner Mitte gebracht. Abends hat er oft kaum noch Zeit, seine Realitätschecks durchzuführen, und morgens fehlt ihm oft der Antrieb, sein Traumtagebuch zu aktualisieren. Trotzdem liebt er luzide Träume und verbringt wenigstens am Wochenende etwas Zeit damit, sich mehr mit diesem spannenden Werkzeug zu beschäftigen.
Wie schön wäre es, jede Nacht und ohne aufwändige Vorbereitungen einen luziden Traum erleben zu können. Die Traumsituation übernehmen wie ein Agent der Matrix, Objekte schweben lassen, Personen und Gegenstände herbeiholen und verschwinden, oder sogar selbst einen Flugtraum erleben – all das wäre möglich.
Im Internet findet er eine Fülle an Informationen und Vorschlägen, um häufiger luzide Träume zu erreichen. Doch bis auf einige wenige Erlebnisse im Abstand von mehreren Wochen oder sogar Monaten passiert nachts nicht viel. Viele Techniken hat er schon ausprobiert, aber wenig Erfolg gehabt. In einem Forum stößt er auf den Tipp eines einzelnen Users, der von den meisten anderen nicht wirklich ernst genommen wird. Viele glauben, die Geschichte sei nur ausgedacht, aber Kiran fasziniert sie. Der User behauptet, es würde von astralen Mächten verhindert, dass das Wissen darüber in der materiellen Welt Verbreitung findet. Allerdings gäbe es eine geheime astrale Bibliothek namens Avesta.
Diese Bibliothek werde von den Astralwächtern, einer Art Astralpolizei, sorgsam abgeschirmt. In ihr finde der Träumer einen Schlüssel und eine geheime Praxis, wie man jederzeit und mühelos eine Astralreise und einen luziden Traum einleiten könne. Kiran ist von der Geschichte fasziniert und nimmt sich vor, bei der nächsten Gelegenheit nach Avesta zu suchen.
Viele Nächte später ist es wieder so weit. Kiran wird luzid. In der Traumsituation fühlt sich irgendetwas merkwürdig an, sodass er auf seine Hand blickt – nur vier Finger sind erkennbar, und die Haut glänzt merkwürdig rötlich. Mit Affirmationen wie „Klarheit jetzt!“ und „Kontrolle jetzt!“ stabilisiert er sein luzides Bewusstsein. Jetzt ist es wichtig, nicht die Kontrolle zu verlieren und den schmalen Grat zwischen Traumerleben und bewusster Kontrolle aufrechtzuerhalten. Normalerweise reicht ein Gedanke oder eine Absichtserklärung aus, um sofort den Ort zu wechseln. Nachdem er den Traum einige Sekunden weiter stabilisiert hat, beginnt er, sich langsam auf Avesta zu fokussieren: „Ich möchte nach Avesta, der Quelle von Wissen und Wahrheit.“
Sogleich verpufft seine bisherige Traumumgebung, und er findet sich schwebend in einem wolkenartigen Nebel wieder. Der Nebel lichtet sich, und er erblickt die astrale Projektion der Bibliothek von Avesta. Wie ein goldener Tempel strahlt sie aus der Wolkenlandschaft hervor. Das ist sein Ziel, das er als Nächstes ansteuern muss, doch ihm ist gleichzeitig bewusst, dass es Hindernisse geben wird.
Gewaltige Statuen von kriegerischen Mischwesen mit Löwenkopf, menschlichem Körper und Engelsflügeln bewachen den Eingang. Statt den Haupteingang zu benutzen, zwingt er sein Bewusstsein, sich auf eine weitläufige Route hinter die Hauptpyramide zu begeben. Die Wächter bleiben weiterhin schlafend, und geduldig lässt er sich wie auf einer sanften Strömung lautlos an ihnen vorbeitragen.
Plötzlich erwachen die Wächter. Die steinernen Körper verwandeln sich augenblicklich in bunte, weiche Löwenfelle mit metallischer Rüstung. Muskeln spannen sich an, leuchtende Augen öffnen sich und blicken umher. Doch die Aufmerksamkeit der Wächter richtet sich nicht auf Kiran, sondern auf eine junge Frau, die versucht, den Haupteingang der Pyramide zu erreichen. Ein Energiestoß schleudert sie augenblicklich aus ihrem luziden Traum. Offensichtlich gibt es auf dieser Traumebene mehrere Träumer gleichzeitig. Kiran bewahrt eine stoische Gelassenheit – eine Fähigkeit, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hat. Diese Gelassenheit verhindert, dass er zu früh erwacht.
Langsam wird er zu einem kleinen Nebeneingang gezogen, und schließlich wird ihm Zugang zur Bibliothek gewährt. Er geht einen schmalen, aber hohen Gang entlang, an dessen Wänden Tausende von Büchern in Regalen stehen. Je näher er sich dem Zentrum der Bibliothek nähert, desto kleiner wird er, und desto größer und gigantischer wirken die Bücherregale um ihn herum. Er weiß, dass dies Projektionen seines Verstandes sind, um die astronomische Menge an unbekanntem Wissen bildhaft zu symbolisieren und die große Bedeutung dieser Erfahrung erlebbar zu machen.
Schließlich gelangt er an eine Art See, in dessen Zentrum eine runde steinerne Plattform mit einer verschlossenen Truhe steht. Hier könnte sich das geheime Wissen um den sofortigen Zugang zu Astralreisen befinden. Er setzt seinen Weg fort, die einzige Brücke zur zentralen Plattform. Plötzlich erscheinen an den Wänden der Halle über dem See Bilder von ihm aus der Vogelperspektive, wie er in seinem Bett liegt. Von den Seiten erkennt er schematische Schatten, merkwürdige Formen und gesichtslose Kreaturen, die sich seinem wehrlosen, schlafenden Körper langsam nähern. Diese Bilder machen ihm Angst. Plötzlich verspürt er das starke Verlangen, aufzuwachen und wieder in die Sicherheit der realen, gewohnten Welt zurückzukehren.
Er wacht auf und schaltet das Licht ein: Stille. Kirans luzider Traum ist heute zu Ende.